Oliver Rathkolb
Carl Orff und der Nationalsozialismus
Publikationen des Orff-Zentrums München
Schott Music
Mainz
Beschreibung
Der Zeithistoriker Oliver Rathkolb diskutiert in dieser monografischen Studie nicht nur die wichtigsten bisherigen Ergebnisse der Forschung zu diesem kontroversen Thema, sondern ergänzt sie durch zahlreiche neue, quellenbasierte Erkenntnisse. Er thematisiert das Verhalten Orffs vor, während und nach der NS-Diktatur, insbesondere seine Kontakte zu NS-Potentaten. Analysiert wird zudem die künstlerische und politische Rezeption des Orff-Schulwerks, der Carmina Burana und weiterer Bühnenwerke.
Begründung der Jury
Zusammen mit Generationsgenossen wie Werner Egk, Johann Nepomuk David, Otmar Gerster oder Ernst Pepping gehörte Carl Orff zu den deutschen Komponisten, die nicht der NSDAP angehörten, aber während des NS-Zeit in Deutschland blieben, sich mehr oder weniger an den Unrechtsstaat anpassten und gegen Kriegsende dank der von Goebbels abgezeichneten „Gottbegnadeten-Liste“ vom Fronteinsatz verschont blieben. Das hat zu Mutmaßungen darüber geführt, welche Rolle Carl Orff im Nationalsozialismus gespielt hat ‒ zumal Werke wie die 1937 uraufgeführten Carmina burana oder die Opern Der Mond (1939) und Die Kluge (1943) an führenden Häusern des „Dritten Reichs“ inszeniert wurden.
Auftrieb erhielt die Diskussion um Orffs politische Haltung zum Hitler-Regime Mitte in den 1990er Jahren durch Veröffentlichungen des deutsch-kanadischen Historikers Michael Kater ‒ wobei vor allem die angebliche Behauptung Orffs 1946 vor dem „Screening Center“ in Bad Homburg, er sei Mitglied der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ gewesen, von Kater als „Widerstandslüge“ eingestuft wurde und für erheblichen Aufruhr in der Presse sorgte. Um die Debatte auf eine solide wissenschaftliche Grundlage zu stellen, beauftragte das Orff-Zentrum in München den renommierten Zeithistoriker Oliver Rathkolb vom Institut für Zeitgeschichte an der Universität Wien 2012 mit einer Sichtung und Aufarbeitung der Quellen ‒ eine Arbeit, die sich fast ein Jahrzehnt lang hinzog, aber nun mit ihren differenzierten Ergebnissen und Einschätzungen zweifellos ein Standardwerk zum Thema hervorbrachte.
Aufgrund der erst 1999 aufgefundenen Verhörprotokolle des „Screening Center“ aus amerikanischem Privatbesitz kann Rathkolb nachweisen, dass Orff zwar Kurt Huber, den intellektuellen Kopf der „Weißen Rose“, gekannt hat und dies auch zu Protokoll gab, aber keine eigene Mitgliedschaft in der Gruppe behauptete. Der zuständige Militärpsychologe stufte Orff deshalb als „passive antinazi“ ein ‒ eine Bewertung, der sich Rathkolb anschließt. Er weist nach, dass sich Orff mit Ergebenheitsadressen an das Regime stets zurückhielt (im Gegensatz etwa zum Kollegen Werner Egk), aber dennoch nicht auf eine Karriere im NS-Staat verzichten wollte. An einer Berücksichtigung des Orff-Günther-Schulwerks in der Musikpädagogik war ihm ebenso gelegen wie an einer Mitwirkung der Günther-Tanzgruppe bei den Olympischen Sommerfestspielen 1936. Auch für die Verbreitung seiner (bei Nazi-Ideologen durchaus umstrittenen) Carmina burana setzte er sich zusammen mit dem Schott-Verlag ein. Als stärkste Anbiederung an die rassistische NS-Kulturpolitik sieht auch Rathkolb Orffs Bühnenmusik zu Shakespeares Sommernachtstraum von 1939 an, die dem Regime als Ersatz für Mendelssohns Musik diente.
Die Frage, ob „bei allen Musikaufführungen der NS-Zeit die Gefahr der unbewussten Funktionalisierung durch das NS-Regime ‒ als Teil der Systemstabilisierung ‒ bestand“, stellt sich auch Rathkolb im Fall von Orff, ohne sich auf einen „Schuldspruch“ oder eine „Reinwaschung“ einzulassen. Die moralische Bewertung bleibt dem Lesepublikum überlassen ‒ das Buch Carl Orff und der Nationalsozialismus argumentiert ausschließlich durch (vielfach unbekannte) Quellen, die in reichem Umfang und zum großen Teil als Faksimile abgedruckt und ausgewertet werden. Ein bemerkenswerter Beitrag zur problematischen Rolle eines Künstlers unter totalitärer Herrschaft, der überdies gut zu lesen ist.