Charles Gounod
Faust
Oper in einem Prolog und vier Akten (Erste Fassung)
Oper in fünf Akten (Zweite Fassung)
Dialogfassungen
Herausgeber: Paul Prévost
Bärenreiter-Verlag
Kassel · Basel · London · New York · Praha
Beschreibung
Charles Gounods „Faust“ erlangte seine internationale Anerkennung in der Fassung als vollständig gesungene Oper. Darüber geriet weitgehend in Vergessenheit, dass das Werk ursprünglich mit gesprochenen Dialogen komponiert worden war. Die frühen Fassungen mit Dialogen und Melodramen vor der Aufführung 1869 an der Pariser Opéra sind Gegenstand dieser neuen Ausgabe und enthalten umfangreiches unbekanntes Material. (Die dritte Fassung „version opéra“, erschien 2016 in einer separaten Ausgabe, BA 8713).
Bereits im Verlauf der Proben 1858 am Théâtre-Lyrique, während der ersten Aufführungsserie dort 1859, sodann im Vorfeld der Wiederaufnahme 1862 sowie während der Aufführungen auf der kleineren Bühne an der Place du Châtelet kam es ununterbrochen zu Änderungen und Umgestaltungen. Eindeutig definierte Fassungen sind somit unmöglich zu etablieren. Doch unter Einbezug des vollständigen zugängigen Quellenmaterials (darunter erst kürzlich entdecktes, spannendes Material) sowie der verschiedensten Aspekte der Rezeption legt Paul Prévost systematisch eine in zwei Hauptfassungen angelegte Partitur vor, in deren Chronologie Stetigkeit und Wandel nachvollziehbar werden. So ist, unter Dokumentation aller musikalischer Veränderungen eine für Aufführungen praktikable Partitur entstanden, die einen noch viel zu unbekannten „Faust“ zeigt – ein „Faust“, der in der Tradition der Comique wurzelt.
Etliche musikalische Nummern werden hier erstmals als Partitur veröffentlicht: Das Terzett Faust-Wagner-Siebel „À l’étude ô mon maître“, das Duett von Valentin und Marguerite „Adieu, mon bon frère!“, Méphistophélès‘ Arie „Maître Scarabée“, Siebels Romanze „Versez vos chagrins dans mon âme!“, Valentins Arie mit Chor „Chaque jour, nouvelle affaire“, der Hexenchor „Un deux et trois“, außerdem sieben „Mélodrames“, deren fehlende oder unvollständige Orchestrierung für die vorliegende Edition vervollständigt wurde. Erst vor Kurzem fand sich von Fausts Original-Kavatine „Salut! demeure chaste et pure“ der lange verschollene zweite Teil. Andere Nummern unterscheiden sich von den bekannten Stücken nur durch Details in der Orchestrierung.
Begründung der Jury
Die romantische Vorstellung vom Werk, das Komponist:innen in unumstößlicher, eigenhändig abgesicherter Form aus der Hand geben, wurde (und wird) wird vor allem vom Opernbetrieb immer wieder ad absurdum geführt. Nach dem Belieben der Theaterdirektoren und Sänger:innen wurde gekürzt und erweitert, Theatertraditionen und Publikumsusancen haben schon manches ehrgeiziges Werk mit gnadenlosem Pragmatismus zurechtgestutzt.
Besonders ehrgeizig geriet der Plan des knapp 40-jährigen Charles Gounod, Goethes Faust zusammen mit den Librettisten Jules Barbier und Michel Carré in eine französische Oper zu verwandeln. „Faust hört nicht auf, mein Herz zu rühren“, so fasste Gounod seine Begeisterung für Goethes Drama zusammen, die auch die Komposition trug. Allerdings wurde die Oper in einem Prolog und vier Akten, die für das Pariser Théâtre-Italien mit Dialogen versehen war, schon während der Proben heftig zusammengestrichen und im Ablauf verändert; nach der Uraufführung am 19. März 1859 nahm Gounod weitere Änderungen vor, verzichtete aber nicht auf die Dialoge, die erst in der endgültigen Fassung vollständig durch Rezitative ersetzt wurden. Diese bekannte Version erschien 2016 als Neuausgabe in der Reihe „L’Opéra Français“ beim Bärenreiter-Verlag, der jetzt in derselben Reihe mit der Urfassung und den kurze Zeit später erfolgten Umarbeitungen (2. Fassung in fünf Akten) des Faust nachlegte. Damit kann man erstmals ein Hauptwerk der französischen Romantik in seinen verschiedenen, hochinteressanten Entwicklungsstadien nachvollziehen ‒ wobei man auf Erfahrungen mit der Wiederaufführung der Urfassung im Jahr von Gounods 200. Geburtstag (2018) durch den Dirigienten Christophe Rousset mit anschließender CD-Produktion zurückgreifen konnte.
Der Herausgeber Paul Prévost muss in seinem auf Französisch, Englisch und Deutsch vorgelegten Vorwort der Partitur einräumen, dass es auch ihm nicht gelungen ist, alle Materialien der Erst- und Zweitfassung aufzutreiben ‒ bedingt durch Verluste, drastische Kürzungen oder sonstige Umarbeitungen. Viele bekannte Nummern unterscheiden sich von der bekannten Fassung nur durch Details der Orchestrierung, aber es gibt auch etliche Neuentdeckungen, die hier erstmals veröffentlicht werden: etwa das Terzett zwischen Faust, Wagner und Siebel, das Duett Valentin-Marguerite, Méphistophélès‘ Arie „Maître Scarabée“ (später ersetzt durch die bekannte „Ronde du veau d’or“) oder den Hexenchor „Un deux et trois“. Eine Besonderheit sind sieben Melodramen die für die Ausgabe in der Orchestrierung ergänzt wurden.
Die Ausgabe bietet zugleich eine wissenschaftliche Rekonstruktion und ein (vorbildlich gedrucktes und lesbares) Aufführungsmaterial mit Partitur, Klavierauszug und Orchesterstimmen. Das Libretto ist in der Synopse der beiden französischen Versionen (ohne Übersetzung) abgedruckt; in der Partitur werden erste und zweite Fassung zusammengeführt, wobei der Herkunft klar erkennbar bleibt (ein Anhang enthält Varianten und ausgeschiedene Nummern).
Damit wird einerseits das Theaterrepertoire ‒ das sich freilich mit Dialogfassungen wegen der Sprachprobleme immer etwas schwer tut ‒ um einen neuen und frischen Blick auf Gounods Faust bereichert. Andererseits lässt sich anhand der Partitur und des Kritischen Berichts der Charakter des Bühnenwerks als „Manövriermasse“ der zeitgenössischen Aufführungspraxis faszinierend nachvollziehen.